Mutter – Beste Freundin?

Mit sehr wenigen Menschen habe ich ein derart inniges Verhältnis wie zu meiner Mutter. Das ist umso erstaunlicher, da wir beide unsere Gefühle nicht sehr offen zeigen. Sie kann mich sehr berühren und sie schafft es mich wie keine andere zu verletzen. Wenn ich an sie denke, fällt mir ihr Lachen und ihr Unternehmungsgeist ein, aber auch manch erbitterter Streit. Unsere Verbindung war immer von tiefen Emotionen begleitet. Obwohl weder sie noch ich uns als emotional bezeichnen würden. Aber das scheint wohl eher äusserlich so. Im Innern brodelt da so manches unserer Süppchen.

Solange ich denken kann, kümmerte sie sich um uns Kinder, trug gewissenhaft die Verantwortung und stand uns in schwierigen Zeiten bei. Sie war es, die immer an meiner Seite war, mich ermahnte, wenn ich falsch lag, mich stützte und zu mir hielt. Auch dann, wenn sie nicht mit meinem Tun einverstanden war. Ich erinnere mich gerne an unsere ausgedehnten Diskussionen, während wir das Geschirr spülten, beim Kochen oder auf gemeinsamen Wanderungen. Wir sprachen über Gott und die Welt, über antiautoritäre Erziehung, das Leben von Nonnen, die sexuelle Revolution, über Musik oder über gute und schlechte Lehrer.

Die Aufzählung ginge beliebig weiter. Für ihre offene Haltung und für vieles andere liebe ich sie sehr. Heute geht sie auf die Neunzig zu. Ihre Freundinnen, Geschwister und ihr Ex-Mann sind ihr bereits ins ewige Paradies vorausgegangen und es wird zunehmend stiller um sie.

Aber sie kann mich immer noch, mit einer hingeworfenen Bemerkung wie: “Du solltest noch deine Haare waschen, bevor du gehst.”, auf die Palme bringen. Als ob ich das nicht selbst wüsste!

Als Freundin habe ich sie nie gesehen, dafür hatten wir zu wenig Distanz zu einander. Sie ist mein moralisches Gewissen. Sie ist eben meine Mutter, mit vielen liebevollen Zügen, aber auch übergriffig und verbohrt.

Ich liebe sie.