Buckelpiste des Lebens
Lieber Onkel Sepp, du warst der Bruder meiner Mutter und der Jüngste von sieben Geschwistern. Du hast zeitlebens keinen von uns kalt gelassen. Obwohl du sehr bescheiden und zurückgezogen gelebt hast, haben wir uns oft um dich gesorgt. Wie damals, als du beim Besuch der öffentlichen Toilette am Zürcher Paradeplatz, mit dem Kämmen deiner Haare beschäftigt warst und darüber vergessen hast, dein Gebiss, das du zur Reinigung herausgenommen hattest wiedereinzusetzen. Es blieb trotz sofortiger Suchaktion, spurlos verschwunden.
Ein anderes Mal, hast du dein neues Hörgerät liegenlassen. Dieses elektronische Pfeiff-Ding hast du sowieso gehasst, und hattest es wohl nicht vermisst, bis es zu spät war. Obwohl du doch ohne das kleine Wunderding kaum ein Wort verstehen konntest.
Du magst etwas gehadert haben mit dem Zwischenmenschlichen, aber auf der Skipiste warst du der absolute Champion, eine wahre Augenweide. Ich werde nie vergessen, wie du in Reschen über die Buckelpiste von Schöneben gewedelt bist. Du bewältigtest den hügeligen Abhang mit einer Eleganz und Harmonie, als bestünden deine Knie aus Gummi, das war herrlich anzusehen. Ich war damals um sechzehn herum, pubertierend mit null Bock auf gar nichts, und fand Freizeitsport absolut lächerlich.
Aber ich gebe neidlos zu, dass ich mir damals wünschte, ich könnte ebenso schnittig die Piste heruntersausen, gerade so, als gäbe es die buckeligen Hügel unter den Skiern nicht. Ich dachte damals: Mein Gott, der kann das wahnsinnig gut, und das in seinem Alter! Hut ab! Heute weiss ich nicht mehr genau, in welchem Winter das war, aber wenn ich nachrechne, müsstest du damals plus, minus dreiundvierzig Jahre gewesen sein. Womit du für mich zu der Zeit, vom Alter her, mehr in die Nähe von Methusalem gehörtest.
Heute lässt mich das schmunzeln. Ja, ich habe geübt und ja, ich kann das heute beinahe so gut wie du, und ich bin gerade sechzig geworden. Also viel älter als du damals. Wie sich mit der Zeit doch die Perspektive verschiebt? Selbstverständlich fühle ich mich heute nicht alt. Obwohl man mit sechzig definitiv nicht mehr jung ist, höchstens junggeblieben, was zuweilen ganz schön anstrengend sein kann.
Doch zurück zu dir. Das Skifahren hattest du als Bergler in die Wiege gelegt bekommen. Deine andere grosse Leidenschaft war das Alteisen sammeln. Wo du gingst und standst, hast du Metall angehäuft. Jahrelang bist du mit einem kleinen Laster mit Ladefläche herumgefahren und hast jederzeit achtlos weggeworfenes Metall eingesammelt.
Diese, deine Schätze, hast du zum Leidwesen deiner Hausverwaltung im Hausflur der Alterssiedlung gelagert, weil der Keller schon damit vollgestopft war, sowie in deiner Wohnung gelagert hast, sogar dein Bett wurde zum Eisenlagerplatz. Bescheiden wie du warst, hast du stattdessen auf der Couch geschlafen.
Du gingst deinen eigenen Weg, Familienbande und Beziehungspflege waren nicht in deiner DNA. So vergingen die Jahre, auch mein Leben war satt-voll mit der jungen Familie und der Work-Life-Balance. Folglich trafen wir uns nur noch bei Beerdigungen oder an einem deiner seltenen Besuche. Dafür kreuzten sich unsere Wege manchmal unverhofft, an den unmöglichsten Orten in Zürich. Meist wurde mir erst hinterher bewusst, dass du das gewesen sein musstest, der da an mir vorbeigefahren war. Wahrscheinlich ging es dir ebenso.
Du warst nicht der Typ, der sich um andere kümmert. Du warst ein Eigenbrötler und hast dich standhaft geweigert, ein Telefon anzuschaffen. Wenn jemand mit dir in Kontakt treten wollte, musste er persönlich vorbeikommen und vorsorglich dir vorher eine Karte schreiben. Dann hast du hin und wieder angerufen. Mit der Reduktion der öffentlichen Telefonkabinen in der Stadt wurde auch das immer schwieriger. Deine Schwester, meine Mutter, hat sich oft darüber genervt. Denn entweder bist du viel zu spät zur Verabredung gekommen oder gar nicht. Vielleicht wolltest du sie so etwas auf Distanz halten.
Später, nach einem Verkehrsunfall hatte dein Laster Totalschaden. Du hattest im Laufe deines Lebens mehrere Unfälle und galtest in unserer Familie als unverwüstlich, aber wie sich herausstellen sollte, gab es auch da Grenzen. Du erholtest dich von den Verletzungen zwar immer wieder und lebtest weiter wie bisher, aber jedes Mal, auf einem etwas tieferen Niveau. Nach dem Vorfall mit dem Laster also, und auch aus Altersgründen, du warst inzwischen Mitte siebzig, bist du aufs Fahrrad umgestiegen, natürlich mit Anhänger fürs Eisen. Von da an bist du damit überallhin gefahren. Bis du mit dem Velo einen, deiner gröberen Unfälle hattest, mit Schädelhirntrauma und dem Verlust des rechten Auges. Was dich nicht hinderte, dich gleich wieder in den Sattel zu schwingen. Doch langsam und fast unmerklich ging auch dir die Kraft aus und es wurde um dich ruhiger. Und immer öfter hast du es vorgezogen, das Rad vor dir herzuschieben.
In diesem Kontext lässt sich nachträglich auch einordnen, dass uns die Nachricht, dass du einen Unfall hattest und im Krankenhaus liegst zwar überraschte, aber nicht sehr beunruhigte, ausser natürlich deine besorgte Schwester. Sie hatte jedoch ihrerseits gerade ihre Schulter in einem anderen Spital operieren lassen und unser Fokus lag auf ihr. Der Onkel Sepp, witzelten wir, wird auch diesen Vorfall auf seine unverwüstliche Art wegstecken, wie immer. Keiner ahnte, dass diesmal Endstation sein würde.
Es geschah am Abend, du warst allein in der Stadt unterwegs, ohne Freundin. Hier sei erwähnt, dass ein Exkurs über dich und deine zahlreichen Freundinnen ein separates Buch füllen würde. Doch dein Liebesleben soll dein Geheimnis bleiben. Du warst allein unterwegs, das war auch ein Grund, warum später keiner genau sagen konnte, was geschehen war. Nur soviel haben wir erfahren, dass du an einer Haltestelle zusammengebrochen bist und dir dabei einen Oberschenkelbruch zugezogen hast. Du wurdest im Krankenhaus gepflegt, erholtest dich aber nur langsam und da kam es aus unerfindlichen Gründen zu einer Sepsis. Hinterher stellte man fest, dass mit der Verabreichung der Medikamente etwas falsch gelaufen sein musste. Wie sagt der Wolksmund: Wenns Zweitelet, daenn Drittelets.
Nun liegst du da, aufgebahrt im Andachtsraum des Grossspitals, und bist ganz kühl anzufassen. Man glaubt es fast nicht, dass dein pulsierender Körper so kalt sein kann. Und so macht es auch Sinn, daran zu glauben, dass du, mit deiner Seele die sterbliche Hülle verlassen hast.
Du bist, zumindest für uns, völlig überraschend gestorben. Du bist 85 Jahre alt geworden. Es wäre falsch dein Leben mit der eleganten Abfahrt über eine Buckelpiste zu vergleichen. Dein Dasein spielte sich eher auf der Verliererseite ab und das entsprach wohl mehr dem ‚Wandern im tiefen Tal‘. Aber du hattest auch viele glückliche Momente erleben dürfen.
Uns Zurückgebliebene trifft dein Verlust dennoch hart. Obwohl wir alle wissen, dass auf Erden keiner ewig bleibt. Und ganz ehrlich: An irgendetwas werden wir alle sterben, ob gesund oder nicht. Nur hätte ich dir gewünscht, dass es noch ein Weilchen dauern würde. Ich stelle mir vor, dass du da, wo du jetzt bist, ungestört Alteisen anhäufen kannst und zwischendurch eine schneebedeckte Buckelpiste elegant und in vollendeter Harmonie, hinunterwedeln kannst, gerade so als wären deine Knie aus Gummi.