Zwei Strophen Happy Birthday

Werden wir in Zukunft in Ganzkörperanzügen ins Theater gehen? Wir haben uns bereits an so vieles gewöhnt. Gerade noch wurden wir ausgesperrt, nun wirbt man wieder um uns. Wir heissen Sie willkommen. Wir freuen uns, Sie wieder in unserem Geschäft begrüssen zu dürfen. So steht es vor vielen Geschäften. Wollen wir zum Abendessen in ein Restaurant gehen oder zum Schuhe kaufen in einen Laden oder für den Besuch beim Coiffeur, bedingt dies, dass wir uns an die ausgeschilderten Corona üblichen Massnahmen des BAGs halten, zwei Meter Abstand, Maskentragen, Händewaschen, zu Hause bleiben.

Keine Frage. Wir wollen! Alles ausser zu Hause bleiben, weil immer noch besser, als im Lockdown die eigenen vier Wände anstarren. Mit kindlicher Freude stürzen wir uns auf ein kleines Stück, das uns gewährt wird und sich beinahe anfühlt wie die Rückkehr zur Normalität. Ein kleines Stück, zurück, zu der Zeit, vor der Covid-19 Pandemie und der Panik, sich zu infizieren. Wenn auch in Babyschritten, wie zum Beispiel in Form einer Pizza, die man sich für einmal auswärts servieren lässt.

Wir alle bemühen uns und wollen die neuen Freiheiten nicht durch Unachtsamkeit aufs Spiel setzen, wollen, dass die Leute wieder zuversichtlicher in die Zukunft schauen können, wollen, dass es nicht mehr nötig ist, die Sans Papiers mit Essenpaketen zu versorgen, wollen, dass die Leute wieder Arbeit haben und nicht Kurzarbeit anmelden müssen, wollen, dass alles wieder so wird wie früher, vor Corona.

Alle? Nein. Parallel zu den sinkenden Ansteckungszahlen melden sich immer lauter die Zweifler, die die Sicherheitsmassnahmen als völlig übertrieben ansehen, die das Ganze als Hysterie abtun, eine Verschwörungstheorie wittern, Bill Gates und seinesgleichen beschuldigen, die Welt in Geiselhaft nehmen zu wollen. Warum? Wozu? Das kann keiner beantworten, aber klar sei, dass es auf dem Buckel des kleinen Mannes ausgetragen werde. Aber bis das durchschaut wird, werde es zu spät sein, und alle werden vom neuen Impfstoff abhängig sein.

Wieder andere proklamieren, wir bräuchten einfach eine positive Einstellung dazu, man dürfe nicht alles todernst nehmen, was einem da aufgeschwatzt werde.

Wie auch immer. Die einen feiern schon wieder Party. Die anderen warnen vor der zweiten Welle. Und über allem steht die Frage: Was ist uns unsere Freiheit wert?

Eines ist gewiss: Es wird nie mehr so sein wie früher. Nie mehr. Das war nach der Spanischen Grippe so, nach BSE, AIDS und der Vogelgrippe, das war nach Tschernobyl so, nach 9/11 und nach Fukushima. Die Menschen lernen jedes Mal dazu und passen sich den neuen Verhaltensregeln an. Die Menschen sind Überlebenskünstler.

Alle Welt hofft auf die Entwicklung eines Impfstoffes, der, wird er gefunden, erst erprobt werden muss. Mit anderen Worten, es kann dauern, im besten Fall ein Jahr, im schlechtesten dauert es mehrere Jahre. Bis dahin müssen wir uns gedulden. Wir müssen uns darauf einstellen, in öffentlichen Verkehrsmitteln eine Gesichtsmaske zu tragen, überall die zwei Meter Abstand einzuhalten und mindestens fünfmal am Tag die Hände zu waschen, für die Dauer, die es braucht für das Absingen von zwei Strophen Happy Birthday. Und das für die nächsten Jahre.

Eine Aussicht, die einem ganz schön das Leben vermiesen kann. Aber, wir wollen uns jetzt nichts vermiesen lassen, wir wollen damit zufrieden sein, dass wir Stück für Stück, Schritt für Babyschritt, zu dem Leben zurückkehren können, das wir vor der Pandemie hatten.

Doch wann wird das sein? Müssen wir so lange auf Fussballspiele, Kinobesuche, Musikfestivals, Sechseläuten, Streetparade, Schwingerfeste und Carreisen verzichten? Der Grossteil der kulturellen Welt ist weiterhin im Lockdown. Für all diese Veranstaltungen müssen noch Sicherheitskonzepte bewilligt werden.

Vielleicht werden wir in Zukunft unterzeichnen, dass man Selbstverantwortung übernimmt für die Gefahr angesteckt zu werden, wenn man sich in einen Reisebus setzt. Vielleicht werden wir zukünftig wirklich in Ganzkörperanzügen ins Theater gehen oder in den Flieger nach Bali steigen. Wir haben uns schon an so viele Sicherheitskontrollen gewöhnt, vielleicht sind wir bereit, das für den Besuch eines Fussballspiels in Kauf zu nehmen.