Wie die Jungfrau zum Kinde
«Contacttracing, mein Name ist Alex Helfer. Was kann ich für Sie tun?»
Am anderen Ende fragte jemand: «Sie haben mich angerufen?»
Alex versuchte seiner Stimme nicht anmerken zu lassen, dass ihm die Bänder der Maske hinter den Ohren in die Haut schnitten. Headset, Brillenbügel und die Maskenlaschen drückten exakt auf diese Stelle. Nach acht Stunden Dienst fühlte es sich an als würde er mit glühenden Drähten traktiert. Ein Blick auf die Anzeigetafel zeigte ihm, dass im Moment zwölf Operator und Operatorinnen eingeloggt waren, davon war einer frei und zwei Anrufe warteten in der Leitung. Das war guter Durchschnitt.
Alex sass mitten in einem Grossraumbüro, dem man ansah, dass es ruck, zuck eingerichtet worden war. Die Arbeitstische waren mit Abstand platziert worden, die Telefone mit einem Headset versehen, das man sich über den Kopf klemmte, die Rechner, ein Aktionsmodel und nicht das Schnellste, dazu waren offenbar nur noch fremdsprachige Tastaturen verfügbar gewesen. Vielleicht lag es auch am Server, dass das Systeme eine Schnecke war, oder daran, dass gleichzeitig über fünfzig User auf dieselben Daten zugriffen. Er kannte sich da nicht aus, er war Hotelfachangestellter. Er vermisste die Menschen und den persönlichen Kontakt mit dem Kunden. Aber er wollte nicht undankbar sein, das hier war besser als nichts. Zu dem Job war er gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Eigentlich in bei einer Eventfirma angestellt, wurde er durch die Pandemie erst auf Kurzarbeit gesetzt und dann zum Arbeitslosen. Nach drei Monaten Nichtstun hatte er das Herumsitzen satt. Als ihm die RAV-Vermittlerin diese Stelle vorgeschlagen hatte, griff er ohne zu zögern zu.
Nach einem Probetag, bei dem er in die Arbeit der Contact-Tracer eingeführt wurde, bekam er einen Vertrag, und los ging’s:
«Contacttracing, mein Name ist Helfer. Was kann ich für Sie tun?» Er würde nie mehr vergessen, wie nervös er gewesen war, beim ersten Mal. Würde er auf Anhieb die Daten aufrufen können? Würden ihm die richtigen Fragen einfallen?
Doch, es kam anders.
«Bauer hier», schluchzte jemand in die Leitung. «Ich rufe an, weil ich positiv getestet wurde.»
Die Anruferin wurde erneut von einem Weinkrampf geschüttelt. «Entschuldigen Sie, aber gerade ist meine Mutter an Corona gestorben und das, nachdem sie meinen Vater gepflegt hatte, bis zu seinem Tod. Nun hat es nicht nur mich erwischt, sondern auch meinen Bruder.»
Leid und Trauer erstickten ihre Worte. «Mir geht es relativ gut, doch mein Bruder ist ganz übel dran.»
Alex sprach Frau Bauer sein Beileid aus, hörte zu und wies behutsam auf das Kontaktverbot hin.
«Aber wir mussten doch zu unseren Eltern schauen. Wir konnten sie doch nicht todkrank alleine lassen!»
Er verstand und vereinbarte schliesslich mit ihr, dass er sich in ein paar Tagen wieder melden würde, nachdem sie sich etwas gefasst hatte. Als er aufgelegt hatte, dachte er, wenn das so weitergeht, halte ich es nicht lange aus.
Doch, entweder hatte er Glück oder die Schutzmassnahmen des Bundesrates begannen zu greifen. So häufig wie an seinem ersten Arbeitstag, hatte er später nie mehr mit Todesfällen zu tun. Dafür ergaben sich andere Situationen. Zum Beispiel, der Infizierte, der sich geduldig Alex Belehrungen anhörte.
«Begeben sie sich unverzüglich in Isolation. Sie dürfen zu niemandem Kontakt haben, keinen Besuch haben und niemanden treffen.»
«Jawohl.»
«Benutzen sie ein gemeinsames Badezimmer mit anderen, müssen sie es nach Gebrauch mit Spray desinfizieren.»
«Ja, das machen wir.»
«Sie dürfen nicht einkaufen gehen, den Hund nicht Gassi führen, nicht mal in den Keller oder die Waschküche gehen.»
«Ja, ist gut.»
Alex stutzte: «Ich höre eine Frauenstimme, ist das ihr Fernseher?»
«Ach das. Nein, das ist meine Frau.»
«Ihnen ist schon klar, dass sie nicht im selben Raum mit ihrer Frau sein dürfen?»
«Warum? Sie ist auch in Quarantäne.»
«Ja, doch als Infizierter müssen sich von ihr separieren, um eine Ansteckung zu vermeiden.»
«Ah, das geht nicht! Wissen Sie, ich und meine Frau waren noch nie getrennt in den fünfunddreissig Jahren seit wir verheiratet sind.»
Alex begann nochmal von vorne mit erklären.
Eine andere Anruferin antwortete, als er sie fragte, wann sie das letzte Mal Kontakt zu ihrem Partner hatte, damit er den Zeitraum der Quarantäne bestimmen konnte.
«Wie meinen Sie das? Also das war, warten sie … Meinen sie sexuellen Kontakt?»
«Nein. Wann waren sie das letzte Mal mit ihm zusammen?»
«Wir leben in derselben Wohnung. Aber seit ich Symptome hatte, bin ich auf Distanz gegangen, ausser natürlich in der Nacht, da schliefen wir nebeneinander im Bett. Zählt das auch?»
«Anders gefragt: Haben sie heute mit ihrem Mann gefrühstückt?»
«Ja-ha!»
Oder jener: «Meine Frau und ich haben überhaupt keine Symptome. Da müssen wir doch nicht in Isolation, oder?»
«Wenn sie positiv sind, doch.»
Und wieder ein anderer fragte: «Wenn die Isolationszeit abgelaufen ist, muss ich vorher bei ihnen anrufen? Oder einen Negativ-Test bringen?»
«Nein, wenn Sie zwei Tage vor Ende, keine Symptome haben, dürfen sie die Isolation verlassen. Zu dem Zeitpunkt sind sie nicht mehr ansteckend, bleiben jedoch für einige Zeit positiv. Ein Test wäre also sinnlos. Für eine gewisse Zeit sind sie gegen Corona immun.»
«Heisst das, ich muss keine Maske mehr tragen?»
«Doch!»
Oder: «Wissen Sie, mein Mann und ich waren immer sehr vorsichtig, haben immer Distanz gewahrt und so aufgepasst, damit wir uns nicht anstecken und jetzt das! Positiv! Wann ist das endlich mal fertig, dieses Corona? Das ist doch ein Mist!»
Alex pflichtete ihr lachend bei.
Die einen nahmen es sportlich, andere reagierten auf das Testergebnis unsicher und überfordert: «Was mach ich denn jetzt mit meinem Baby?»
Einzig, jene, die mit ätzender Ironie antworteten, waren ihm unheimlich. «Nein, es ist unbegreiflich, mir geht es gut. Und wenn es mir dreckig ginge, würde es auch keine Sau interessieren.»
Seit dem ersten Mal waren einige Wochen vergangen und er kam heute mit dem Rechner ganz gut zurecht. Routine wollte sich jedoch bei dieser Art von Sisyphusarbeit nicht einstellen, denn die ständigen Änderungen wurden in einem hohen Tempo vom Virus bestimmt. Alex atmete auf, nach neun Stunden war seine Schicht zu Ende. Er schob den Kopfhörer runter, setzte ihn in den Akku und wischte anschliessend den Arbeitstisch mit Desinfektionsmittel ab. Seine Gedanken eilten voraus und er dachte an Morgen. Morgen würde er wieder bei null beginnen, und dasselbe Übermorgen, und Überübermorgen.