MONTE
Die verschwundenen Kinder
Ist es Hans Furrers Einbildung oder wurden seine Enkelinnen Mara (8) und Andrea (6) von ihrem Vater verschleppt? Im beschaulichen Dorf Berwil hält man Furrer für durchgeknallt.
Es gelingt ihm Janet Perlitz, Mitglied der Sozialbehörde, zu überzeugen. die sich auf die Suche begibt. Als sie deswegen aus den eigenen Reihen angefeindet wird, will sie erst recht wissen, was dahinter steckt. Janet erhält einen Tipp. Doch bevor sie dem nachgehen kann, verlangt man, dass sie an einer Radtour mit den Kolleginnen und Kollegen der Behörde teilnimmt. Ohne Janet. Sie hat geschworen, nie mehr auf einen Drahtesel zu steigen. Aber sie hat nicht mit der Sturheit ihrer Kollegen gerechnet.
1. Kapitel
An diesem Dienstag im Juni 2012 fand mit einem Schuss die Berwiler Beschaulichkeit ein jähes Ende. Das Foto unter den Schlagzeilen, das noch gleichentags im Internet die Runde machte, zeigte Hans Furrer in Handschellen selbstbewusst in die Kamera lächelnd, daneben mich, Janet, zerzaust und unfertig bekleidet mit einer Pistole in der Hand.
Man hätte meinen können, ich hätte geschossen. Aber eins nach dem andern.
An diesem Dienstag also, schlief ich und war abgrundtief in der Traumwelt versunken. Ein Zustand, der durch die fatale Kombination meiner Dauer-Diät und dem vorabendlichen Behörden-Trinkgelage hervorgerufen worden war. Wohlgemerkt, nur zur besseren Teambildung hatte ich am vergangenen Abend fünf Mojitos getrunken und das auf leeren Magen.
Lästig bohrte sich ein Klingeln und Hämmern in meinen komatösen Schlaf. Jemand rief meinen Namen, kniete auf der Glocke und polterte an die Tür. Erschrocken sprang ich auf und sackte gleich wieder zusammen, meine Füsse waren noch nicht wach.
„Ich kom…!“ Meine Lippen bewegten sich zwar, heraus kam jedoch nur ein leises Röcheln, meine Stimme war noch nicht da. Konfus eilte ich zur Tür.
„Aufmachen!“, lärmte es draußen
Ich öffnete vorsichtig einen Spalt breit.
Ist ja offen, wollte ich sagen, aber jetzt, wo meine Stimme funktioniert hätte, blieben mir die Worte im Hals stecken. Hans Furrer stand vor mir, mit einer Waffe in der Hand.
Spinnt der? Tür zu und abgesperrt!
Ich preßte mich daneben an die Wand und starrte auf das Schloss.
„Aufmachen! Verdammich!“
Ein Schuss knallte. In meinen Ohren begann es zu pfeifen.
„Wohl wahnsinnig!“, brüllte ich.
„Aufmachen!“
„Erst wenn Sie versprechen, nicht mehr zu schießen!“
„Ja! Los!“
Mit schlotternden Knien öffnete ich. Der kalte Luftzug erinnerte mich daran, dass ich in der Eile vergessen hatte, etwas überzuziehen. Hastig schnappte ich mir eine Jacke aus der Garderobe, während Hans Furrer schon an mir vorbei ins Wohnzimmer stürmte. Den Quadratschädel gesenkt wie ein Büffel vor dem Angriff, die Arme links und rechts neben dem Körper schwingend, als müsste er sich einen Weg bahnen, schien er zu allem entschlossen. Mitten auf dem großen Teppich vor dem Couchtisch blieb er schnaufend stehen und schaute sich um. In seinen Augen lagen Wut und Ohnmacht. Seine schiere Präsenz ließ das Zimmer schrumpfen. Er hatte definitiv einen Hang zur Dramatik, das war mir bekannt. Doch dass er wie ein Desperado um sich schießen würde, davor hatte mich bisher keiner gewarnt.
Ich war ihm gefolgt und stand ihm nun gegenüber. Jeder Mensch reagiert in Ausnahmesituationen anders, hat seine eigene Überlebensstrategie. Die einen schreien das Haus zusammen, andere ergreifen die Flucht. Wieder andere versuchen abzulenken. Zu Letzteren gehörte ich.
„Was zu trinken? Meine Kehle ist wie zu“, deutete ich. Das Herz klopfte mir bis zum Hals.
Er schüttelte den Kopf.
„Was dagegen, wenn ich …?“
Furrer nickte zu meiner Schrankküche und zischte, ich solle vorwärtsmachen.
Wie auf Eiern bewegte ich mich zum Spülbecken, kramte mit bebenden Fingern zwei Alka-Seltzer aus der Schublade, warf sie ins Glas und füllte Wasser ein. Während sie aufschäumten, brütete ich über dem Grund des Überfalls. Und kam zu keinem Ergebnis. Stattdessen drängten sich mir Bilder des vergangenen Abends auf, darunter das von Robin, wie er mir behilflich war beim Aufschließen der Haustür. Ich schielte zum Bett und atmete auf. Die zerwühlten Laken waren leer.
Das Geräusch über den Steinboden kratzender Stuhlbeine riss mich aus meinen Gedanken.
„Setzen!“, bellte Furrer und wies auf den Stuhl.
„Was wollen Sie in aller Herrgottsfrühe von mir?“, murrte ich.
„Es ist zehn nach drei Uhr, nachmittags, mein Fräulein! Und Sie wissen ganz genau, was ich will.“
Sein schulmeisterlicher Ton nervte und natürlich meldete sich prompt mein schlechtes Gewissen. Um Zeit zu schinden, hielt ich mir das Glas vors Gesicht.
„Sind Sie etwa wegen der Sozialbehörde hier?“
Ich, Janet Perlitz, war diesen Frühling in die Sozialbehörde von Berwil gewählt worden, als nebenamtliche Milizfunktionärin. Es war eine stille Ersatzwahl für Anne Loosli gewesen, meine Vorgängerin, die an Gebärmutterhalskrebs erkrankt und deshalb zurückgetreten war.
Seit zwei Jahren wohnte ich schon hier und hatte mich in dieses kleine Dorf verliebt. Als man einen Ersatz für Anne suchte, hatte ich eine Chance gesehen, mich für das Wohl der liebgewonnenen Mitbürger einsetzen zu können. Meine Begeisterung für die Übernahme des Amtes teilten jedoch nicht alle.
„Dieser Haufen von Unfähigen“, knurrte Furrer.
Ausgerechnet gestern, bei der behördlichen Sitzung, hatten wir seine Anfrage besprochen. Er hatte darin ultimativ die Beibringung seiner Enkelinnen gefordert und schriftlich gedroht: „Sonst passiert was!“ Woraufhin sich Kollege Markus Kehl zu der Äußerung hatte hinreißen lassen: „Der Furrer, das alte Raubein, kämpft wieder mal gegen Windmühlen. Seit dem Tod seiner Frau Nelly ist er völlig von der Rolle.“
Selbst mir, der Neuen, war die Geschichte von Hans Furrer bekannt. Er war ein vom Schicksal schwer geprüfter Mann. Vor zwei Jahren hatte man seine Tochter Iris, oder deren sterbliche Überreste, auf der A1, Höhe Winterthur-Wülflingen, aus ihrem Fiat schneiden müssen. Schwerer Verkehrsunfall mit Todesfolge. Nach ihrer Beerdigung war sein Schwiegersohn Kevin mit den Enkelinnen abgereist, mit unbekanntem Ziel. Vor zehn Tagen war die nächste Katastrophe für ihn eingetreten: Seine Frau Nelly starb an Kehlkopfkrebs. Es war schnell gegangen. Für ihn viel zu schnell.
Ich schaute ihn über den Rand des inzwischen mit Schaumresten verklebten Glases an.
„Und was soll das?“, ich deutete auf seine Waffe.
Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ihr versteht ja nichts anderes! Fünf Briefe habe ich geschrieben. Geschehen ist gar nichts!“
Ich widersprach: „Sie haben eine Antwort erhalten, aber die passt Ihnen nicht. Es gibt nun mal bei der Einwohnerkontrolle keine Folgeadresse von Kevin und ihren Enkelinnen. Wir haben keine Ahnung, wo sie heute leben.“
„Sehen Sie, und genau das glaube ich nicht!“
„Es gibt keine andere Antwort“, seufzte ich, „und wenn Sie mich erschießen.“
„Sie sollen sie suchen und finden“, verlangte er und tippte mit der Knarre auf mich.
Mein Blick blieb wie ferngesteuert am stählernen Lauf hängen. So weit war es also mit mir gekommen. Aus diesem kleinen schwarzen Loch würde nächstens eine Kugel in meinen Körper einschlagen und mein junges Leben beenden. Ich hatte zwar keine Ahnung von Waffen, glaubte jedoch, eine Luger darin zu erkennen. Vor einiger Zeit hatte ich mich auf Wikipedia vertippt und eine Seite mit diesem Bild war aufgesprungen. Dem Text zufolge handelte es sich um eine im Zweiten Weltkrieg beliebte Militärwaffe und ich hatte angenommen, sie wäre mit dem Ende des Krieges ausgemustert worden. Das Exemplar in Furrers Hand schien allerdings gut in Schuss zu sein.
„Mit solchen Drohungen verscherzen Sie es sich erst recht mit allen.“
Offenbar berührte ich mit diesen Worten einen empfindlichen Nerv, denn er sah mich plötzlich müde an.
„Ich muss handeln. Nelly und Iris sind bereits von mir gegangen. In der Zeit, die mir noch bleibt, muss ich Mara und Andrea finden. Ich habe es Nelly auf dem Sterbebett versprochen.“
Ein heftiger Husten unterbrach ihn und er wischte sich zittrig mit dem Taschentuch über den Mund.
„Sie sind jung. Was sind für Sie schon ein paar Monate?“
Ich realisierte, dass sein Taschentuch Blutspuren aufwies, also fragte ich: „Sind Sie krank?“
„Das geht Sie einen Scheissdreck an!“, fauchte er.
Ich versuchte, ihn zu beschwichtigen. „Hören Sie! Die Nachforschungen sind in vollem Gange. Ihr Schwiegersohn Kevin zigeunert von einer Ecke der Schweiz in die andere. Bis jetzt wissen wir nur, dass er von Berwil nach Allschwil und von da nach Tavannes gezogen ist, aber das Haus, in dem er vor zwei Jahren wohnte, wurde inzwischen abgerissen. Eine Folgeadresse hat er nicht hinterlassen. Unsere Suche geht also weiter. Allein bis wir herausgefunden hatten, dass er von Allschwil nach Tavannes gezogen war, sind fünf Wochen vergangen. Verstehen Sie?“
„Sie können ruhig normal mit mir sprechen. Ich bin weder schwerhörig noch dement“, murrte er. „Haben Sie mal daran gedacht, dass Kevin mit den Mädchen nach Frankreich oder Belgien ausgereist sein könnte?“\\
Er starrte mich an, bis ich den Blick abwandte. Es kribbelte in meinem Nacken, als würde eine Erinnerung in mir aufsteigen.
„Bei so was schaut ihr Behördenfuzzis doch tatenlos zu“, klagte er weiter. „Ihr wollt sie doch gar nicht finden. Ihr denkt, der alte Furrer ist gaga. Den halten wir hin, bis er gestorben ist. Dann erledigt sich das Problem von selbst.“
„Bestimmt nicht. Ich verspreche Ihnen hiermit, dass ich nicht eher aufgebe, bis ich Mara und Andrea gefunden habe.“
Ich schaute ihm fest in die Augen. Zugegeben, bisher war mit dem Fall nicht alles rund gelaufen. Er war mir von Kollegin Dora übergeben worden, die ihn wiederum ihrerseits während ihrer Krankheit für Anne betreut hatte. Doch jetzt stand mein Entschluss fest. Ich würde nicht eher ruhen, bis ich die beiden gefunden hätte.\\
Er packte meine Hand. „Und wenn er die Mädchen an einen Pornoring verschachert hat, um sich für ein paar Mäuse Drogen zu kaufen? Haben Sie daran mal gedacht? Was schauen Sie? Wussten Sie nicht, dass Kevin drogensüchtig ist?“
„Was?“, ächzte ich. Davon stand nichts in den Akten. Wie konnte das passieren?
Resigniert ließ Furrer den Kopf hängen und bewegte ihn hin und her, als wäre er an einem Faden festgemacht. „Die Ungewissheit raubt mir langsam den Verstand.“
Ich schaute betroffen auf meine Hände. Dann bemerkte ich die Waffe, die vergessen vor uns auf dem Tisch lag. Ich schnappte sie mir.
„Ha - Schluss jetzt! Sie heben ganz langsam die Hände über den Kopf! Los!“, befahl ich.
„Ach, Fräulein!“
„Na, wird’s bald?“
„Und wenn nicht, erschießen Sie mich dann? Nur zu! Sie tun mir damit einen Gefallen.“